Blast hat es sich zum Ziel gesetzt, der Praktiken des Lesens und Sehens im Hinblick auf Publikationen zu reflektieren. Dies hat dazu gefürt, den Wandel der Wahrnehmungsmuster und der Vorstellungen, die man vom Leser/Betrachter hat, zu untersuchen. Dies wiederum führt zu einer Analyse des Wandels der Produktionsformen und zu einer Betrachtung verschiedener Systematisierungs- und Reglementierungstechniken.Nehmen wir eine Gegebenheit wie den "Einband". Mit dem Einband ist nicht nur der Leim gemeint, der die Seiten zusammenhält, sondern auch die zugrundeliegende Organisationsstruktur -- der Prozeß des Strukturierens und Systematisierens. Es sind die Kräfte und Praktiken gemeint, die dazu dienen, die Dinge zusammenzuhalten, Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen zu strukturieren, bestimmte Rollen zuzuweisen, einen Körper in Bewegung zu versetzen oder zur Ruhe zu bringen. Welche Körper. Fähigkeiten und Verhaltensmuster sind es, die der Einband mit prägt? Und welche Publikationsformen sind es, die jene Körper und Verhaltensmuster mit bestimmen?
Nehmen wir die Seite und die Wechselbeziehung zwischen Seite und Leser. Man hält die Publikation in der Hand und liest die Seiten, und manchmal wird man in die Geschichte hineinversetzt. Eine spannende Geschichte zu lesen, heißt, sich in gewissem Maße in ihr einzurichten, ein Gespür für den Ort der Handlung und ein Gefühl für die Menschen dort zu bekommen. Ein gut redigierter Text führt den Leser in eine andere Welt und verändert dadurch auch dessen Alltagswirklichkeit. Eine Seite ist jedoch nicht unbedingt etwas, das man in der Hand hält; es kann sogar sein, daß sie überhaupt nicht wirklich greifbar ist.
Neue Technologien ermöglichen neue Arten von Seiten und mächtigere Mechanismen im Hinblick auf ihre Wirkung. Nehmen wir zum Beispiel die Seite im Web. Das Web erzeugt stärker denn je die Illusion, daß der Leser in eine andere Welt versetzt wird. Vielleicht handelt es sich hierbei nicht mehr so sehr um eine Illusion als vielmehr um eine neue Form des Versetzt-Werdens in eine andere Welt. Es werden immer suggestivere, dreidimensionale Seiten entwickelt, die es uns erlauben, in neue Realitäten einzutauchen. (Die Seite ist wie ein "Parangole" oder zumindest wie dessen Kurzform.) Die Seiten und der dazugehörige Apparat versetzen uns nicht nur in eine andere Welt, sie ergreifen auch unseren Körper und üben einen machtvollen Einfluß auf ihn aus - stärker als die "lmagination" (die eine frühere Erscheinungsform des In-eine-andere-Welt-Versetzens darstellt). Der Körper des Lesers reagiert physisch -- sein Herz pocht, seine Blicke schießen hin und her, seine Häinde greifen in die Luft. Man könnte eine Seite daher unter dem Gesichtspunkt von Techniken des Körpers betrachten. Doch hat nun die Seite selbst einen "Körper" und beherbergt innerhalb ihrer Grenzen, die keine Grenzen im herkömmlichen Sinne mehr sind, weitere Körper und Handlungen.
Was macht eine Seite aus? Wenn sich dieser Begriff sowohl auf Druckseiten als auch auf Computerbildschirme bezieht, gibt es etwas, das beide gemeinsam haben. Man könnte dies als die Wechselbeziehung von Code und Schnittstelle bezeichnen. Die Codes sind auf einer Oberfläche angeordnet ("Repräsentation"), und diese Oberfäche ist Teil eines Vermittlungsmechanismus -- eines Apparates, der die Codes überträgt und ordnet und der gleichzeitig durch die Codes bestimmt wird. Bei einem gedruckten Buch sind nicht nur die Seiten relevant, sondern auch das ganze System ihrer Zusammenfügung und ihres Vertriebs, das heißt, das Produktionsparadigma bestimmt die Form des Buches. Bei einem Computer ist nicht der Bildschirm entscheidend, sondern der Mechanismus, der die Aneinanderreihung der Codes dort bewirkt, sowie das Produktionsparadigma. Letzteres schließt verschiedene Ebenen ein: verschiedene Schichten von Codes und Schnittstellen, die hinter einer benutzerfreundlichen Oberfläche sichtbar werden. Während die jeweiligen Produktionsparadigmen sehr verschieden sind, ist die Seite eine Art Schalt-Begriff, der es ermöglicht, einen Austausch zwischen Buch und Computer herzustellen. Nicht im Sinne einer Verbindung, sondern im Sinne einer übertragung.
Schnittstellen und Codes sind eingebunden in Praktiken, innerhalb derer sie als "Technologie" und "Diskurs" bezeichnet werden können. Die Praktiken des Erzeugens von Schnittstellen und des Sich-Einschreibens konvergieren in einer Form, die man als Seite bezeichnen kann; es könnte sich aber ebensogut um eine andere Form handeln. Wichtig ist nur, daß es eine Verkörperung gibt, die erkannt werden kann. Und es bedarf eines betrachtenden Körpers, eines Lesers, der diese Verkörperung erkennt. Einerseits beeinflußt die Verkörperung die Art und Weise, wie sie wahrgenommen wird, andererseits wird sie erst durch den Wahrnehmungsprozeß greifbar. Die beiden Verkörperungen -- Leser und Seite -- sind miteinander verknüpft und voneinander abhängig wie die beiden Enden eines Lassos: Sie sind an Kräfte und Praktiken der Verkörperung gebunden, die sich in ihrer Existenz wechselseitig bedingen.
Innerhalb des Körpers einer Seite können sich Blickrichtungen in bewegliche Wahrnehmungsperspektiven auflösen. Der Blick fällt nicht nur aus einer Richtung auf die Seite, da die Seite gleichsam einen Spiegelsaal eröffnet und zu einem sozialen Feld wird. Sie ist Teil eines umfassenden Apparats der Wahrnehmung. Sie ist bewohnbar. Sie schaut zurück.
Seiten sind eingebunden in Praktiken der Verkörperung, technologische und diskursive Praktiken. Seiten sind die äußeren "Fassaden" dieser Praktiken und Kräfte, sie sind "Verkleidungen", die als Mauern, interaktive Oberflächen oder Repräsentationen fungieren können und die in zunehmendem Maße Räume eröffnen, die sie zuvor lediglich repräsentiert haben.
Es entsteht ein System von Schnittstellen, Codes und Verkörperungen, die untrennbar miteinander verknüpft sind, sich wechselseitig bedingen und einander in komplexen performativen und prozessualen Schleifen beeinflussen. Wenn man die einzelnen Komponenten im Diagramm darstellen möchte, sollte man sie in Form endloser Ketten wiedergeben, wobei diese Ketten verschiedene Wissens- und Handlungsfelder darstellen. Ein solches Diagramm ähnelt einem Hypertext. Aber ebenso wie Hypertext-ähnliche Diagramme und Web-Metaphern ist die Vogelperspektive problematisch, da sie die Möglichkeit voraussetzt, daß man von außen bzw. von oben auf die Dinge hinabsehen kann. Der Standpunkt ist jedoch immer in das jeweilige Betrachtungsfeld integriert. Und ein Hyperlink-Vektor verweist auf einen leeren Zwischenraum, einen Grund, der in die Tiefe zu gehen scheint, bei dem es aber weder Raum noch Tiefe gibt.
Solche Diagramme werden besser auf die Seite gedreht, in die Horizontale gebracht. Die Links verschwinden dann. Sie werden ersetzt durch überschneidungs- und übertragungsmuster. Das Diagramm sieht aus wie ein Bird in dem Gerät, mit dem ein Optiker die Sehfähigkeit testet ("Phoroptor").
Die übertragungen werden in den "Momenten" eines Diskurses vorübergehend in eine Linie gebracht und zu Aussagen geordnet. Die "ordnende Kraft" nimmt keine feste Position ein, von der aus sie diesen Proteß aus gleichbleibender Distanz steuern kann. Sie ruft auf und ordnet, ist aber nie auf ein endgültiges Ziel ausgerichtet und führt den Akt des Ordnens als solchen vor. Die Aussagen werden durch verschiedene Formatierungen begrenzt, die instabil und unvollständig sind. Die Publikation versucht, diesen Formatierungen eine illusorische Vollständigkeit zu verleihen und sie in Gestalt von Seiten zu rahmen, zu binden und zu reproduzieren und diese stapelweise gemä ß bestimmten Standardisierungstechniken und-kriterien zu systematisieren und in Umlauf zu bringen. Aber welche alternativen Sozialformen entwickeln sich aus dieser neuen Ökologie? Vielleicht eine Matrix, im Lyotard'schen Sinne.
Die Seite vereinigt sich mit dem Raum oder schafft Raum. Der Raum wird in der Seite außer Kraft gesetzt, und diese Außerkraftsetzung ist selbst ein Strukturprinzip. Wie findet man Zugang zu einer Seite, wie orientiert man sich in ihr, wie bestimmt man sie? Wie findet man Zugang zu einem Raum, wie orientiert man sich ihm, wie bestimmt man ihn? Und welche Art von Leser bringen die Seiten hervor, welche Wahrnehmungsfähigkeiten, welche Formen der Figuration?